Kraft – Liebe – Besonnenheit: Pfingstpredigt 2020

Pfarrer Dr. Sebastian Kranich (Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen)

Predigt am Pfingstmontag, 01. Juni 2020, im „Gottesdienst unter freiem Himmel“ an der Nikolauskapelle Dörflas.

Predigttext: Die Vollmacht der Jünger, Johannesevangelium 20, 19-23

 

19 Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!

20 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.

21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.

22 Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist!

23 Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.

 

Liebe Gemeinde,

die Türen verschlossen halten. Das kann richtig sein. Nach all dem, was geschehen ist, gehen die Jünger besser nicht raus. Denn der Tod von Jesus war abschreckend genug – auch für sie.

Sie haben schon davon gehört: Jesus soll leben. Doch was nützt das ihnen? Sie fühlen sich bedroht. Wie er will keiner sterben!

Ja, drinbleiben kann vernünftig sein. Das wissen seit Mitte März auch wir. Denn eine Gefahr liegt in der Luft. Ihr Name: Covid-19: Sie ist nicht zu sehen, zu schmecken, zu riechen oder zu hören – aber deutlich zu spüren.

Tür zu. Stay at Home. Bleib zuhause: So hieß es deshalb wochenlang. Denn die Infektionsgefahr schwebte und schwebt über uns allen, besonders aber über den Risikogruppen.

Also stellten die Einkäufer die gefüllten Tüten anfangs vor die geschlossene Tür der Alten und verschwanden wieder. Vielleicht hinterließen sie noch einen Zettel. Doch bloß kein Körperkontakt!

Und in viele Pflege- und in Seniorenheime gab es über viele Wochen kein Hereinkommen und kein Herauskommen. Es sei denn, man gehörte zum Personal.

Letzteres war sehr hart und auf die Dauer ist es in dieser Art und Weise nicht hinzunehmen. Denn Infektionsschutz ist wichtig. Aber zuerst schützt das Grundgesetz die Menschenwürde.

 

Doch zurück zu den Jüngern: Am Abend halten sie die Türen verschlossen, so heißt es bei Johannes. Mit „am Abend“, da ist wohl weniger eine Tageszeit gemeint, denn eine Stimmung, die sich breitmacht. Denn die Gefahr da draußen, sie schlägt aufs Gemüt. Und die geschlossene Tür tut es auch. Vielleicht fällt den Freunden Jesu schon die Decke auf den Kopf, wie so vielen von uns ab und an in den letzten Wochen.

Womöglich haben auch sie schon einen Koller. 11 Leute sitzen da drin zusammen. Nur der ungläubige Thomas ist nicht da. Vielleicht geht es Ihnen so ähnlich wie uns: Sie sind niedergeschlagen und haben Angst, sie fühlen sich ohnmächtig und sind wütend.

 

Wütend – auf wen? Denn irgendjemand muss doch an all dem schuld sein!

Und da steht dann bei Johannes dieses verhängnisvolle Wort: Die Türen sind verschlossen „aus Furcht vor den Juden.“ Hätten sie nicht einen anderen Schuldigen finden können?

Womöglich haben sie das auch. Also etwa: Dieser Jesus, der hat uns das eingebrockt. Oder doch: Selber schuld! Oder aber, die Mächtigen, die Römer, und die von uns, die sie unterstützen. Aber doch nicht wir einfachen, frommen Juden! Denn Juden das sind sie ja alle elf selber – und Jesus war auch einer. Starb mit einem Schild über den Kopf. Darauf stand sogar: „Der König der Juden.“

 

Tatsächlich ist dem Evangelisten Johannes an dieser Stelle nicht ganz zu trauen. Denn was er da schreibt, das gehört in eine spätere Zeit: Es ist Jahrzehnte später aufgeschrieben. Und zwar in einer Situation, in der die jüdischen Gemeinden mit den neuen christlichen konkurrierten – niedergeschrieben in einem harten Konflikt zwischen Geschwistern, die verschiedene Wege einschlugen.

Doch Ohnmacht und Wut lassen Menschen Schuldige suchen. Sei es als Erklärung im Nachhinein. Oder sei es mittendrin in der Misere. Und leider wirkt in Corona-Zeiten die lange Linie der Judenfeindschaft nach.

Kaum war Corona da, wurden Schuldige gesucht. Die USA beschuldigten China, China die USA. Die Ehe für alle sollte daran schuld sein oder die chinesische Fledermaussuppe, später auch das Mobilfunknetz 5G oder Bill Gates. Über so viel Unsinn kann man sich nur an den Kopf greifen.

 

Aber eins empört mich wirklich: Auf sogenannten Hygiene-Demos tragen Leute den gelben Judenstern mit der Aufschrift: „Impfgegner.“ So vergleichen sie sich mit den unter den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Juden.

Es ist ein perfides Spiel, was Rechtsradikale da treiben. Einerseits schieben sie Juden die Schuld an Corona in die Schuhe. So wird etwa der Holocaust-Überlebende George Soros beschuldigt, Corona als „Biowaffe“ entwickelt zu haben. Andererseits stilisieren sie sich selbst mit dem gelben Stern als Opfer.

Diese Leute spielen ein Spiel mit der Angst. Dabei dürfen Christen nicht mitspielen. Denn Jesus spielt auch nicht mit, beim Spiel mit der Angst.

 

Bei Johannes lesen wir: Jesus betritt den geschlossenen Raum. Er durchbricht ihre Isolation und sagt: „Friede sei mit euch!“ Den ohnmächtig-wütenden, den niedergeschlagen-ängstlichen wünscht er Frieden. Er tut das sogar zweimal. Und die Jünger werden darüber froh. Sie hatten davon gehört, dass er leben soll. Aber nun wird es für sie sichtbar.

Nur bei guten Worten bleibt es jedoch nicht. Denn Jesus tut etwas, was wir gerade besser bleiben lassen: Er bläst die Jünger an. Sie bekommen den Atem des Heiligen Geistes zu spüren. Und der bringt sie in Bewegung, innerlich wie äußerlich.

 

Denn dieser Geist ist anders. Er ist auch nicht zu vergleichen mit dem Geist der Corona-Stimmung, der in dem aktuellen Hit der Rolling Stones in einer Geisterstadt herumgeistert. In „Living in an ghost town“ singt der 76-jährige Mike Jagger:

 

„Life was so beautiful / Then we all got locked down“. Auf Deutsch: „Das Leben war so schön / Dann wurden wir alle eingesperrt“

Und weiter: „I’m a ghost / Living in a ghost town // I’m going nowhere / Shut up all alone // So much time to lose / Just staring at my phone“

Also: „Ich bin ein Geist / Der in einer Geisterstadt lebt // Ich bleibe, wo ich bin / Eingesperrt und ganz alleine // Es gibt so viel Zeit zu verschwenden / Indem ich einfach nur auf mein Handy starre“

 

 

Wie anders der Heilige Geist ist – dazu eine Begebenheit, über die der Theologe und Medizinethiker Ulrich H. J. Körtner unlängst berichtete:

„Dienstag, 21. April, am späten Abend. Markus Lanz moderiert im ZDF die x-te Talkrunde zur Corona-Krise. Im Studio der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, der Virologe Henrik Streeck aus Bonn sowie die Schriftstellerin und Philosophin Thea Dorn.

Zunächst dreht sich das Gespräch um Schutzmasken, um neueste Studien zu Covid-19 und um Prognosen, wie man der Pandemie [….] Herr werden kann. Schließlich kommt der Moderator auf Thea Dorns […] Essay über die Einsamkeit der Sterbenden in den Zeiten von Corona zu sprechen.

Thea Dorn bekennt offenherzig, sie sei kein gläubiger Mensch und legt nach: ‚Wir sind eine vom Glauben abgefallene Gesellschaft‘ […].

Aber dann kommt es: Frau Dorn erzählt, wie sie in Hamburg auf dem Weg zum Studio an einer Kirche vorbeigekommen sei. Draußen hing ein großes Transparent mit einem Zitat aus einem der Paulusbriefe.

‚Und ich‘, so die Philosophin, ‚hätte nicht gedacht, dass ich mal in einem Fernsehstudio sitzen würde und sagen werde: Der klügste Satz, den ich heute gehört habe, war ein Bibelzitat von Paulus! Und zwar stand da drauf: Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. ‘

Thea Dorn weiter:

„Der Satz habe sie […] ‚umgehauen, weil ich den Eindruck habe, wir lassen uns im Augenblick massiv vom Geist der Furcht leiten und nicht vom Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Und ich glaube, dass das nicht gut ist, wenn die Gesellschaft anfängt, sich vom Geist der Furcht bestimmen zu lassen.“ 1

 

Ich finde: Da ist etwas dran. Denn der Geist der Furcht lässt uns erstarren. Er lässt uns sitzen, die Türen zu. Doch wir können nicht drinnen bleiben, bis es komplett ungefährlich ist. Wir können nicht warten, bis das Virus, bis die Gefahr endgültig verschwindet.

Jesus jedenfalls schickt seine Jünger los, wie sein Vater ihn losgeschickt hat. Dabei ist die Gefahr für sie beileibe nicht vorüber. Doch er gibt ihnen den heiligen Geist. So können sie ihre Starre überwinden.

Für uns kann das heute etwa heißen: Schritt für Schritt heraus aus dem Lockdown. Mit Kraft, mit Liebe und – nicht zuletzt – mit Besonnenheit. Denn Leichtsinn ist nicht angebracht, wie es auch in Thüringen jede und jeder wissen kann. Und wie es jetzt die dramatischen Bilder aus Brasilien zeigen.

 

Und nicht zuletzt vermögen die Jünger Jesu durch den heiligen Geist noch etwas anderes. Jesus sagt zu ihnen: „Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“

Die Fähigkeit und das Vermögen, Sünden zu erlassen: Vielleicht ist das zu Pfingsten 2020 die wichtigste Gabe des Heiligen Geistes. Denn Schuld zuweisen und Versäumnisse vorhalten – das geschieht jeden Tag:

Was wurde zu spät getan? Und: Was wird zu früh gelockert gewesen sein? Welche Entscheidungen waren falsch oder unangemessen? Was ist schiefgelaufen, war und ist ungerecht? Vielleicht auch nur: Wer hat sich geirrt?

Erst sollte der Sommer gegen Corona helfen, dann wieder doch nicht. Erst waren Masken überflüssig, jetzt sind sie Pflicht, bald sind sie freiwillig: Alles Gründe, um mit Wissenschaftlern und Politikern hart ins Gericht zu gehen. Und auch unter Christen wurde der Ton untereinander zunehmend rau.

 

Während einer Regierungsbefragung auf dem bisherigen Höhepunkt der Corona-Krise sagte Gesundheitsminister Jens Spahn diesen Satz: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“

Jesus sagt: Viel einander verzeihen: Das müsst ihr zwar nicht. Denn: „Welchen ihr die Sünden behaltet, denen sind sie behalten.“ Aber ihr könnt das tun, weil: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen.“

Und ihr braucht auch nicht Leute verfolgen und belangen, weil sie zu Ostern Posaune geblasen haben, und womöglich gegen den Buchstaben einer Verordnung verstoßen haben.

 

Ordnungen sind sinnvoll. Aber im Geist der Liebe muss man sie auch einmal überschreiten können. Selbst dann, wenn man sie selber fabriziert hat. Bodo Ramelow wurde in einem Interview der ZEIT damit konfrontiert. Nach einem Gesprächsgang über Krankheit und Tod sagte der Interviewer:

„Es gab Fälle, da durften Eheleute nicht mal voneinander Abschied nehmen. Da starb man alleine und wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit begraben. Das haben Sie mitentschieden.“

Ramelow antwortete:

„Ja, das habe ich. Und heute frage ich mich, ob das in allen Punkten richtig war oder ob es nicht möglicherweise noch andere Lösungen gegeben hätte. Vor kurzem ist etwa meine Nachbarin gestorben. Ich kannte sie seit vielen Jahren. Eigentlich hätte ich nicht bei ihrer Beerdigung dabei sein dürfen. Doch ich hatte das Gefühl, es zu müssen, wenn auch mit großem Abstand. Alles andere wäre mir unmenschlich vorgekommen. Schließlich habe ich gegen die Verordnung verstoßen, die ich selbst zu verantworten habe.“ 2

 

War das falsch? Mit dem Auge des Gesetzes gesehen: Vielleicht war es da falsch. Aber mit dem Geist der Liebe betrachtet: Da war es gut.

Wir kommen doch nicht weiter, wenn wir einander böse anzinken und giftig anblasen. Greifen wir gegen Corona besser zum pfingstlichen Gegenmittel: zum Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.

 

Dieses Mittel hilft, versprochen.

 

Amen

 


1https://zeitzeichen.net/node/8315

2https://www.zeit.de/2020/21/bodo-ramelow-corona-krise-krisenpolitik-altenpflege-gesundheitswesen